Alle Probleme lösbar, wenn politisch gewollt

Auftaktveranstaltung des neuen HDS-Standorts Berlin: Altersvorsorgepflicht für Selbstständige …


Große Resonanz fand die erste Veranstaltung der neuen Berliner Anlauf- und Begegnungsstätte des Hauses der Selbstständigen am 28. Juni in der Landesvertretung Brandenburg in Berlin. Die spannende Frage „Gibt es Licht am Ende des Vorsorgetunnels für Solo-Selbstständige?“ stand im Fokus der Diskussionsrunde der hochrangigen Expert*innen Gundula Roßbach, Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung, Prof. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts, Dr. Rolf Schmachtenberg, beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie Prof. Daniel Ulber, Rechtswissenschaftler von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Ausgangspunkt der Informations- und Diskussionsveranstaltung war die Ankündigung der Bundesregierung, in dieser Legislaturperiode einen erneuten Anlauf bei der Altersvorsorgepflicht für Selbstständige zu nehmen. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir werden für alle neuen Selbstständigen, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem unterliegen, eine Pflicht zur Altersvorsorge mit Wahlfreiheit einführen. Selbstständige sind in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert, sofern sie nicht im Rahmen eines einfachen und unbürokratischen Opt-outs ein privates Vorsorgeprodukt wählen.“ Das Stimmungsbild dazu ist heterogen: Während eine Versicherungspflicht für Selbstständige einigen Akteur*innen im gesellschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Raum zu weit geht, sehen andere deutlichen Nachbesserungsbedarf im noch für dieses Jahr erwarteten Gesetzgebungsprozess.

Mika Wodke und Dr. Pauline Bader, die beiden Projektveranstaltung der HDS-Anlaufstelle Berlin, führten zum Beginn kurz in den derzeitigen Stand der Altersvorsorgepflicht für Selbstständige ein, in die seit 1889 punktuell und berufsbezogen Gruppen von Erwerbstätigen aufgenommen wurden. „Eine klare Systematik dafür ist allerdings bis heute nicht gegeben“, so Pauline Bader. Die Gefahr von Altersarmut sei bei Selbstständigen groß, jedoch seien die finanziellen Spielräume dafür bei vielen von ihnen nicht gegeben, betonte Mika Wodke.

Gutachten: Altersvorsorgepflicht für Selbstständige verfassungsrechtlich zulässig

Prof. Daniel Ulber stellte sein im Auftrag des HDS erstelltes Gutachten zur „Mindestabsicherung von Selbstständigen in der Rentenversicherung“ vor. Es bietet die Grundlage der Diskussion rund um eine Versicherungspflicht von Selbstständigen in der gesetzlichen Rentenversicherung. Verfassungsrechtlich ist sie, wie Ulber ausführte, zulässig und widerspricht insbesondere auch nicht Artikel 3 Abs.1 Grundgesetz, denn: „Damit trägt eine allgemeine Rentenversicherungspflicht für Selbstständige nicht nur zur Finanzierbarkeit der Rentenversicherung, der Vermeidung von unangemessenen Belastungen der Allgemeinheit aufgrund unzureichender Altersvorsorge von Selbstständigen, sondern auch zur Verbesserung der sozialen Lage von Selbstständigen bei“, heißt es in Ulbers Gutachten (S. 59)

Dreh- und Angelpunkt bleibe die Einbeziehung der Altersvorsorgekosten von Selbstständigen in ihre Honorarkalkulation. Das würde perspektivisch zu einer Annäherung der Kosten von abhängiger und selbstständiger Beschäftigung führen und damit Wettbewerbsverzerrungen verringern.  „Outsourcing und Zwang zu Selbstständigkeit dürften so unattraktiver werden“, so Ulber. Die derzeitige Idee sei, eine Verpflichtung zur Eigenvorsorge bis zu einem Mindestsicherungsniveau einzuführen; über Opt-out-Regelungen (d.h. Befreiung von der Versicherungspflicht unter bestimmten Bedingungen) wird noch diskutiert. „Alle Probleme sind lösbar, wenn man sie lösen möchte. Man sollte gemeinsam über die künftige Ausgestaltung nachdenken“, betonte Ulber.

Deutschland europaweit einziges Land ohne reguläre Altersvorsorge für Selbstständige

Die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung stimmte Ulbers Einschätzung zu, denn: „Selbstständige haben ein höheres Risiko, in der Grundsicherung zu landen, häufige Wechsel zwischen abhängigen und selbstständigen Tätigkeiten machen es schwer, eine solide Altersvorsorge aufzubauen“, stellte Gundula Roßbach fest. Deutschland sei europaweit das einzige Land, das bisher keine gesetzliche Absicherung für Selbstständige vorsehe. „Gut, dass dieses Thema jetzt angegangen wird.“

Bundessozialgerichtspräsident Prof. Rainer Schlegel sieht Schwierigkeiten für den Gesetzgeber, eine konsistente Altersvorsorgepflicht für Selbstständige einzuführen. Gerade angedachte Opt-out-Regelungen stellen aus seiner Sicht einen Widerspruch dar. Ins Zentrum stellte er dabei die Gerechtigkeitsfrage: „Die Mindestabsicherung seit Hartz IV ist verhältnismäßig hoch – viele mit mittlerem Einkommen müssen viele Jahre arbeiten, um dies zu erwirtschaften. Wenn Einzahler nicht mehr bekommen als Menschen, die nie gearbeitet haben, wird es problematisch“, so Schlegel. Er kritisierte in diesem Zusammenhang die Bedingungen für geringfügig Beschäftigte: Sie werden in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen, können sich aber ohne Angabe von Gründen davon befreien lassen.

Staatssekretär Rolf Schmachtenberg stellte den Zusammenhang der geplanten Neuregelung für Selbstständige mit der Stabilisierung des Rentenniveaus durch Neuanpassung der Renten (Rentenpaket II) her. Die Einbeziehung der Selbstständigen in die Rentenversicherung solle möglichst unkompliziert auf digitalem Wege erfolgen.

Daniel Ulber betonte den gesellschaftlichen Konsens darüber, dass die Altersvorsorge für Selbstständige angegangen muss. „Hier ist nicht die Frage, was wissenschaftlich möglich ist, sondern was politisch umsetzbar ist.“ Dafür brauche es Geduld, „aber die Politik sollte jetzt auch den Mut haben, das jetzt zu tun.“

Diskussion spiegelte die Vielfalt selbstständiger Erwerbstätigkeit

Die Fragen oder Statements der Redner*innen aus dem Plenum, unter anderem von der deutschen journalist*innen union in ver.di (dju), dem Verband der Gründer und Selbstständigen (VGSD), der Smart-Genossenschaft oder dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), Verbänden von Künstler*innen, Übersetzer*innen oder dem Direktvertrieb spiegelten einmal mehr das breite Spektrum selbstständiger Erwerbstätigkeit. Im Zentrum der Diskussion standen mögliche Opt-out-Regelungen und Fragen rund ums Wie der geplanten Altersvorsorgepflicht. Gundula Roßbach betonte, dass die Beiträge in jedem Fall einkommensabhängig gestaltet sein müssen und eine Kopplung mit den Steuerbehörden nötig sei, um das Prinzip „once only“ (einmalige Erfassung der Daten) konsequent umzusetzen.

In der angeregten Diskussion betonte Ulber: „Grundsätzlich kann die Rentenversicherung nur leisten, was vorher an Beiträgen eingezahlt worden ist. Das Problem von Dumpinghonoraren kann auf diesem Weg nicht gelöst werden. Hier bedarf es kollektiver Lösungen.“ Die nun deutschlandweit aufgestellten Anlauf- und Begegnungsstätten des HDS wollen solidarisch denkende Solo-Selbstständige und ihre Interessenvertretungen dabei unterstützen.

Schmachtenberg betonte noch einmal, dass Opt-out-Regelungen keine Billiglösung sein könnten. Viele Selbstständige könnten mit der neuen Altersvorsorgepflicht auch bei wechselnden Beschäftigungen verstetigte Versicherungsverläufe haben und damit der Altersarmut entgehen. 

Prof. Schlegel erinnerte daran, dass viele der problematisierten Gruppen gar keine echten Selbstständigen seien, zum Beispiel bei Essenslieferanten oder in der Paketzustellung. „Das sind eigentlich verkappte abhängig Beschäftigte, für die wir eine klare Regelung brauchen.“  Die Outsourcing-Auswüchse bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bezeichnete er als skandalös: „Wo öffentlich-rechtlich draufsteht, muss etwas mehr Moral eingefordert werden. Arbeitslos bei auftragslosen Zeiten – das dürfte es gerade da nicht geben“, so Schlegel. „Das Ziel ist gut, die Umsetzung wird schwierig, der Widerstand ist groß“, resümierte er nüchtern.

Staatssekretär Dr. Rolf Schmachtenberg freute sich über die Branchenvielfalt und Präsenz der Selbstständigen und ermunterte sie, weiter im intensiven Dialog zu bleiben: „Der Gesetzentwurf wird besser durch konstruktiv-kritische Begleitung.“

Ulbers Fazit: „Alle Probleme sind lösbar, wenn man sie lösen möchte. Aber nicht alle sind gleichzeitig zu lösen, weil Sozialgesetzgebung kompliziert ist.“ Aber es sei eine gesellschaftliche Aufgabe, weiter daran zu arbeiten. Und Rentenversicherungspräsidentin Roßbach forderte den ernsthaften Handlungswillen der Politik ein: „Fast drei Millionen Menschen verdienen eine gute Vorsorge im Alter.“

Angebot des HDS wächst bundesweit

Berlin ist die erste von insgesamt drei neuen Anlauf- und Begegnungsstätten des HDS, das 2020 mit Sitz in Leipzig startete (und dort fortgeführt wird). Mit Jahresbeginn 2023 ging das HDS in eine neue vierjährige Projektlaufzeit, in der ein bundesweites Angebot entsteht. Der Standort Berlin wird seinen Fokus auf die Arbeitsfelder unternehmensnahe Solo-Selbstständige, Qualifizierung sowie kollektive Beratung richten und zeitweise Schwerpunkte auf besonders selbstständigen-affine Branchen legen.

Mit weiteren Standorten in NRW und Hamburg wächst ein deutschlandweites Netz von HDS-Beratungs- und Anlaufstellen, um Solo-Selbstständige und ihre Interessenvertretungen, Verbände und Initiativen zu stärken. Alle Solo-Selbstständigen sind herzlich eingeladen, die Angebote des HDS zu nutzen und sich miteinander zu vernetzen.


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